Vom Sog der Massen und der neuen Macht der Einzelnen by Gunter Gebauer & Sven Rücker
Autor:Gunter Gebauer & Sven Rücker [Gebauer, Gunter & Rücker, Sven]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Soziologie, Philosophie, Gesellschaft, Massen, Massenbewegungen, Populismus, Moderne, Konsum, Unterhaltungsindustrie, Internet, Medien
ISBN: 9783641212407
Herausgeber: DVA
veröffentlicht: 2019-01-16T23:00:00+00:00
Das Recht auf Gewöhnlichkeit – Ortega y Gasset und der Massentourismus
Anders als der Titel anzeigt, geht es in José Ortega y Gassets 1930 geschriebenem Essay nicht um einen aktiven Aufstand der Massen. Es werden eher bequeme, selbstzufriedene Menschen dargestellt, die sich Güter, Luxus, Annehmlichkeiten aneignen, die sie nicht selbst geschaffen haben, aber wie selbstverständlich für sich beanspruchen. Die Massen Ortegas sind nicht aufsässig. Sie wollen die Welt nicht zerstören, sie wollen sie auch nicht verbessern. Sie nehmen sich das Recht heraus, ohne besondere eigene Anstrengungen und Leistungen die angenehmen Seiten der Welt zu genießen. Massen ist der Plural eines Menschtyps, der meint, dass er seine Gewöhnlichkeit an jenen Orten ausleben kann, die früher einer elitären Minderheit vorbehalten waren. Die Masse im Sinne Ortegas setzt sich, »ohne dass sie aufhörte, Masse zu sein, an die Stelle der Eliten«.[25] Die Mitglieder von Massen haben eine »allen gemeine Beschaffenheit«; sie heben »sich nicht von anderen Menschen ab«, sondern wiederholen in sich »einen generellen Typus«.[26] Im Unterschied zu den Eliten verfügen die Massen, wie Ortega meint, allerdings nicht über die notwendigen Fähigkeiten und Verhaltensweisen, um die kulturellen Räume zu schätzen, in die sie sich hineindrängen; sie haben nicht die dafür nötigen Distinktionen ausgebildet. Dabei geht es nicht um mangelnde Kenntnisse. Jemand, der die architektonische Qualität einer Kathedrale oder die kunsthistorische Qualität der Sammlung eines Museums nicht zu beurteilen vermag, kann dennoch in der Lage sein, sich angemessen in diesen Räumen zu bewegen. Es ist vielmehr das Fehlen von Takt, wenn man sich leicht bekleidet, mit Flip-Flops an den Füßen durch sakrale Räume bewegt oder im Louvre die Mona Lisa belagert, um Selfies von sich und der Gioconda machen. Die Masse im Sinne Ortegas entsteht aus dem Anspruch, ihre Gewöhnlichkeit an eben den Orten, die früher Eliten vorbehalten waren, mit Nachdruck auszubreiten.
Ein robustes, unbefangenes Verhalten gegenüber einem sakralen Kunstverständnis könnte, wie Ortega meint, eventuell sogar Zeichen einer gewissen Vitalität sein. Was er hingegen beklagt, ist das Einfordern eines vermeintlichen Rechts auf Gewöhnlichkeit. Damit vernichtet die Masse »alles, was anders, was ausgezeichnet, persönlich, eigenbegabt und erlesen ist«.[27] Wenn die Kreuzfahrtschiffe in der Lagune von Venedig festmachen, spucken sie 5000 mit Lunchpaketen und Wasserflaschen ausgerüstete Touristen auf den Markusplatz, die sich bei der Jagd auf Fotomotive gegenseitig die Sicht verstellen. Die ihrer Stadt enteigneten Einwohner überlegen, ähnlich wie jene von Florenz, ob sie die Touristenströme durch Eintrittsgelder regulieren könnten. Auf Mallorca hat die Inselregierung die Touristensteuer verdoppelt, um Billigurlauber abzuschrecken. In Paris haben die Touristen längst vernichtet, was sie in die bekannten Stadtquartiere gezogen hat. Die Teile des Quartier Latin am Seineufer und von St. Germain des Prés sind von den Studenten und Schriftstellern verlassen, Buchhandlungen und Cafés mussten billigen Boutiquen und Schnellimbissen weichen. Auf dem Platz der Sorbonne macht sich eine Kundschaft breit, die von der ehemals vibrierenden intellektuellen Atmosphäre des Viertels nicht einmal aus Büchern weiß.
Das von Ortega formulierte Problem hat sich inzwischen bedenklich verschoben. Nicht die »Einforderung des Rechts auf Gewöhnlichkeit« erscheint heute problematisch. Schwer auszuhalten ist vielmehr, dass dieses Recht keine anderen Rechte neben sich mehr duldet.
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